Sehr viel Schönes konnte ich mit den Jugendlichen auch bei großen
Berg-bzw. Gletschertouren erleben. Gerade bei langen Touren erlebten wir
zusammen echte Kameradschaft und ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl,
in der manchmal endlosen Weite des Hochgebirges. Bei solchen Unternehmungen
werden die Jugendliche vielmehr gefordert als bei reinen Kletterrouten oder
wie bei Kletterübungen im Flachland, in den heimischen Klettergärten. Bei
Hochtouren im Gebirge müssen die Jugendlichen und ich ein Gespür haben,
auf das wir uns verlassen
können.....
Ein Gespür für subjektive Gefahren- und auch objektive Gefahren. Ich
habe ja fast schon alles erwähnt, wobei es im Hochgebirge ankommt- Ausrüstung-Kondition-Wetter-Erfahrungswerte-
Selbst und Kameradenhilfe usw. Ich kann mich noch ganz genau erinnern, an
die erste Gletschertour mit Jugendlichen. Es war im Sommer 1973. Wir machten
mit Kindern und Jugendlichen vom Math.-Claudius-Haus/Kempten 4 Wochen Ferien
im Stubaital. Wir zelteten in der Nähe des großen Wasserfalles gegenüber
der Grawa-Alm. Heute ist hier das Zelten leider verboten. Wir hatten natürlich
vor, mit einigen Jugendlichen ein paar Gipfel im Stubaital zu erobern. Für einige wird es die erste Berg-oder Gletschertour werden. In der
ersten Woche machten wir einige kleine Einlauftouren in der näheren
Umgebung- Trögler, Elferspitze usw. - Wir wollten dabei unseren Winterspeck
verlieren und Kondition sammeln, für schon lange ersehnte Gletschertouren.
Die Kinder und Jugendliche hatten genug Kondition gesammelt für die
bevorstehenden Bergtouren.
Mit
2 Kindern, Bella und Alfred-beide 12 Jahre alt- wollte ich nun die erste
Gletschertour unternehmen.
Das Zuckerhütl 3505 m hoch. Beide hatten schon eine sehr große
Erwartungshaltung und freuten sich rießig
auf diese ernste und gewaltige Gletschertour. Schon von weither, wenn man
die Brennerautobahn entlang fährt
und in das Stubaital einbiegt, kann man das Zuckerhütl mit seinen
firnbedeckten Flanken sehen. Das Zuckerhütl ist die höchste Erhebung der
Stubaier Alpen und ist großer Anziehungspunkt für gletschererfahrene
Alpinisten.
Spätnachmittags stiegen wir mit vollbepacktem Rucksack steil zur
Dresdner Hütte hoch.
Das Zuckerhütl
Am
nächsten Tag mussten wir schon um 5 Uhr in der Früh aufstehen, damit wir
noch auf gute Eis-und
Firnverhältnisse bald den Gipfel des Zuckerhütl erreichen konnten. Der
Abstieg durfte auch nicht so spät sein, da eventl. ein Wetterumschwung zu
erwarten war. Der Morgen war sehr kalt und klar als wir uns auf den Weg machten. Die
Rucksäcke waren schwer beladen mit Biwacksack, Proviant, Esatzwäsche,
Eispickel und Steigeisen. Das Seil war bei mir im Rucksack. Ein bißchen
hatte ich Angst....ein etwas unsicheres Gefühl, die Verantwortung - doch
als ich Bella und Alfred so marschieren sah, war mein unsicheres Gefühl
bald wieder verflogen. Beide wollten unbedingt auf den Gletscher- sie
schaffen die Tour auf das Zuckerhütl. Beide hatten sich so sehr auf dieses
Erlebnis gefreut - und nun war es endlich soweit. Ich selbst hatte diese Tour schon 3 mal mit Jugendlichen gemacht und
kannte die Schwierigkeiten sehr genau.
Es ging sehr gut voran, wir waren alle gut gelaunt. Bald erreichten wir
über Schrofen, Geröll und Firnresten den Pfaffennieder. Die ersten
Sonnenstrahlen wärmten unsere steifen und kalten Glieder. Es war ein herrlicher Morgen. Auf dem Grat des Pfaffennieder ging es nun
in leichter Kletterei weiter. Wir kamen langsam ins Schwitzen und machten
nun eine erste Pause. Das Zuckerhütl war bald zu sehen, eine mächtige
Erhebung in Eis und Schnee eingehüllt. Wir gingen weiter auf den Gletscher
des Sulzenauferners. Meterhohe Gletscherbrüchen und riesige Spalten lagen vor
uns. Wir mussten uns nun anseilen, befestigten die Steigeisen und
marschierten nun vorsichtig über Spalten und Eisblöcke zur Einsattelung
zwischen Pfaff und Zuckerhütl. Hier machten wir nochmals eine kurze Rast,
denn es kam nun das letzte schwierige Stück, eine steile Firn- und
Eisflanke. Vom Sattel aus gingen wir nun direkt am Ostgrat, wobei nach
dem ersten Drittel, große Spalten uns den Weiterweg erschwerten. Wir mussten
in die steile Nordflanke ausweichen.
Auf dem Gipfel
Ich
setzte eine Eisschraube und mußte Bella und Alfred sichern, die letzte
Flanke war vereist und sehr ausgesetzt.
Die Eisflanke endet erst kurz unter dem Gipfel. Wir mußten weiterhin
sehr vorsichtig über vereiste Felsen klettern. Nun waren wir oben -
wir hatten es geschafft - oben auf dem Zuckerhütl, dem höchsten Gipfel der
Stubaier Alpen - Was für ein Gefühl....mit 2 Kindern!
Bella und Alfred waren total erschöpft, sie umarmten mich überglücklich.
Bei Bella kullerten ein paar Tränen. Nun standen wir alle 3 oben. Oben auf
dem Gipfel. Es war eine gigantische Gipfelschau, strahlend blauer Himmel....
ringsum schneebedeckte Berge, eine grenzenlose Weite....Wir waren alleine
auf dem Gipfel und konnten genießen ! Lange konnten wir nicht oben bleiben,
da der Abstieg über die Eisflanke schwieriger ist als der Aufstieg.
Außerdem wird das Eis am Spätnachmittag zu sehr aufgeweicht von der
Sonnenbestrahlung. Wir mußten uns jetzt nochmals sehr konzentrieren auf den
Abstieg. Es mußte wieder gesichert werden. Ich verankerte 2 Eisschrauben
und sicherte Bella und Alfred die steil abfallende Ostflanke hinunter bis
zur Einsattelung. Von dort ging es dann einigermaßen problemlos über den
Gletscher zur Dresdner Hütte zurück.
Danach
Die
erste Gletschertour mit Kindern aus einem Heim lag hinter mir. Es gab mir
ein Gefühl von Zufriedenheit und Selbstvertrauen. Einfach weitere
Motivation......Ich war mir der Verantwortung bewusst, als ich mit den
beiden
Heimkindern die Tour plante und auch dann durchführte. Irgendwie ist es
mit Heimkindern anders, als mit Kindern, die geordnet in Familien
aufgewachsen sind. Warum ?
Ich kann es nicht genau beschreiben....Vielleicht sind sogenannte
Heimkinder dankbarer, anspruchsloser und können sich noch über kleine
Dinge freuen. Zufrieden und total happy fuhren wir dann am Spätnachmittag
mit der letzten Gondel ins Tal,wo uns die anderen Kinder und Mitarbeiter mit großem Hallo begrüßten.
Solche Tage, Erlebnisse und Glücksmomente kann man nicht vergessen...
Aufsichtspflicht
Natürlich gibt es auf solche Gletschertouren, gerade in einer so großen Höhe
- Gefahrenmomente - oftmals heikle und auch gefährliche Situationen. Hier
musste ich dann in Sekundenschnelle Entscheidungen treffen. Entscheidungen,
die
dann nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Bei solchen Situationen, wo
eine schnelle Entscheidung getroffen
werden musste, stand drohend über mir - meine Position als Erzieher -
der eine große Aufsichtspflicht zu bewältigen hat. Für einen Betreuer in
einer sozialen Einrichtung, der die Aufsicht hat über Kinder und
Jugendliche, ist es immer viel schwieriger - als mit Jugendlichen aus
normalen Verhältnissen, oder von freien Jugendorganisationen wie
Alpenverein oder sonstige Jugendgruppen.Um mein Ziel in der Jugendarbeit zu verwirklichen -war es einfach mein
Ziel : über das Klettern und Bergsteigen die Jugendlichen in ein
„normales und sinnvolles Leben zurück zu führen“- nahm ich die Risiken
in Kauf ! Das Risiko der Aufsichtspflichtverletzung. Es blieb mir irgendwie
keine andere Wahl. Natürlich waren die Jugendliche und ich alle Mitglied im
Deutschen Alpenverein, vorrangig aus versicherungstechnischen Gründen.
Anschluss und Integration in den jeweiligen Jugendgruppen vom DAV war für
die Heimkinder meist problematisch. Angst vor fremden Personen - Hemmungen -
Vorurteile Sie fühlten sich sicherer und geborgener bei vertrauten
Personen,
vor allem bei heiminternen Unternehmungen.
Schaufelspitze
Und
doch wurde von mir und von der Heimleitung immer wieder angestrebt, daß
sich die Jugendlichen nach draußen orientieren sollen. Viele Jugendliche
haben auch den Sprung geschafft und sich einen ganz neuen
Freundes- und Lebensbereichaufgebaut, gerade bei gemeinsamen Unternehmungen mit anderen
Jugendgruppen.
Ich habe von Entscheidungen und Gefahren geschrieben. Von Situationen,
die immer Spuren hinterlassen....
Wir waren unterwegs zur Schaufelspitze 3333 m in den Stubaier Alpen. Mit
dabei waren 5 Jugendliche, 2 Kollegen und ich. Es sollte eigentlich nur eine
Einlauftour sein, denn die Schaufelspitze ist auf dem Normalweg eine leichte
Gletscherbegehung. Die Tour ist von der Dresdner Hütte in ca. 3 Std. zu bewältigen.
Abstieg ungefähr 2 Std.
Wir waren schon fast am Ende unserer Tour und konnten schon das gewaltige
Gipfelkreuz sehen, als uns auf dem Gipfelgrat eine überhängende Wächte
den Weiterweg versperrte. Es lagen vielleicht noch 50 m bis zum Gipfel vor
uns, aber das Risiko über die Wächte zu gehen erschien mir zu groß.Sicherungen anzubringen waren ziemlich schlecht. Man konnte zwar eine
Spur auf der Wächte sehen, aber hält die Wächte auch bei uns ? Außerdem
war es schon mittag, die Sonne übt eine shr große Strahlung aus.- Der Schnee ist zu weich -
Ein Wahnsinn bahnt sich an
Als
Erzieher und auch als erfahrener Bergsteiger hatte ich einfach die
Verantwortung bei dieser Tour. Die Verantwortung über die Jugendlichen,
aber für meine Kollegen. Ich verzichtete auf den Gipfelerfolg und brach die
Tour ab. Diese Entscheidung war für michdas einzig richtige bei dieser
bestehenden Gefahr. Die Wächte konnte abbrechen....Meinen Entschluss teilte
ich der Gruppe mit - Sie waren sich der Gefahr nicht bewusst und lachten
mich aus. Gerade mein älterer Kollege war dem Enschluss überhaupt nicht
einverstanden und meinte: „So kurz vor dem Ziel und dann umkehren? Nein !
Ich redete auf ihn ein, erklärte ihm was passieren kann und daß die
Jugendlichen noch keine so große Erfahrung haben. Doch er zeigte sich stur
und uneinsichtig. Was sollte ich machen ? Konnte ich anders entscheiden ?
Die Verantwortung der Gruppe war mir wichtiger, als der unbedingte
Gipfelerfolg meines Kollegen. Trotz meines Vorschlages unbedingt umzukehren,
wollte er nun doch mit
2 Jugendlichen über den Grat auf den Gipfel.Ich hatte keine Möglichkeit ihn umzustimmen. Die Aufstiegsspur führt
nur über den mit einer Wächte bedeckten Grat. Eine Ausweichmöglichkeit
war kaum gegeben, da die Wand senkrecht abfiel. Ich teilte der Gruppe und
meinen Kollegen mit, daß ich ab sofort jegliche Verantwortung
ablehne.
Wächte
Es war ein seltsames Gefühl in mir. Angst ? Verzweiflung ? Auf meinen
Kollegen hatte ich eine Stinkwut, die Jugendlichen einer solchen Gefahr
auszusetzen. Sie können noch gar nicht in der Lage sein abzuschätzen, was
sie für ein Risiko eingehen, wenn sie über die Wächte gehen. Nach Lage
der Dinge war also mein Kollege nicht gewillt umzukehren- das heißt, ich
konnte die 2 Jugendliche und den Kollegen nicht alleine und ohne Sicherung
auf den Gipfel gehen lassen. Es blieb mir keine andere Wahl. Oder ? Ich
seilte uns an. Zuerst machte ich einen geeigneten Standplatz und sicherte
meinen Kollegen zuerst über die Wächte. Vorsichtig ging er auf der Kante
entlang und erreichte frohgelaunt den Gipfel.
Nun sicherte ich die Jugendliche. Zum Schluss kam ich nach. Die Wächte
hatte gehalten. Ich war froh und erleichtert. Wir standen am Gipfelkreuz und
schauten uns an. Mit siegessicherer Mine stand mein „Bergkollege“ und
Jugendlichen neben mir und freuten sich.Vielleicht dachten sie auch ich wäre
ein Angsthase. Ich stand wortlos auf dem Gipfel und wurde mit einer
grandiosen Aussicht belohnt Ich ordnete das Seil und plante für den
Abstieg.
Wir mußten auf dem Rückweg ja nochmals über diese verdammte Wächte.
Ein merkwürdiges Sausen erfüllte die
Luft Irgendetwas stimmte nicht mehr.
Es war ein plötzliches Vibrieren in der Luft, ein Krachen und Dröhnen -
die Wächte - sie zerbarst und donnerte krachend über den Grat die Wand
hinunter.....Plötzlich wieder Totenstille.Wir standen wie versteinert am Gipfelkreuz. Keiner brachte ein Wort
heraus. Entsetzen war in den Gesichtern.Unsere Aufstiegsspur war weg. Nichts deutete mehr darauf hin, daß jemand
den Grat begangen hatte. Und doch sind wir über diese Wächte
gekommen....Bis zum Gipfel. Und nun ? Mein Kollege saß im Schnee und war fix
und fertig. Die Jugendlichen hatten auf einmal Angst. Sie schauten mich nur
ratlos an. Was hatten wir doch für ein Glück und einen guten Schutzengel.
Es wäre nicht auszudenken was geschehen wäre, wenn wir gerade auf der Wächte
gestanden hätten - als diese zusammenbrach und zu Tal donnerte. Wir mussten
nun über den Normalweg absteigen, was ein Umweg von 2 Std. war. Wortlos
brachen wir auf. Die Anderen erwarteten uns schon sehr, da sie den Abbruch
der Wächte sehen konnten. Es war nun alles vorbei. Wir waren wieder
zusammen.
Wir übernachteten auf der Dresdner Hütte und fuhren am anderen Tag sehr
früh heim. Jeder hing seinen Gedanken nach. Es war eine trübe Stimmung. Für
die Jugendliche war es ein erdrückendes Erlebniss. Es wird wohl haften
bleiben....Negativ - oder Positiv.
Aus Fehlern kann man lernen
So
heißt es jedenfalls. Keiner der Beteiligten konnte die Gefahr bei der Gratüberschreitung
abschätzen.
Danach ? Jahre danach ?
3
Jugendliche klettern noch heute und sind auch Mitglied im Alpenverein. Wir
trafen uns nach Jahren und hatten viel zu erzählen.
Mit dem damaligen Kollegen riss die Verbindung ab....
Damals bei dieser Tour ist mir klar geworden, man muss den unbedingten
Mut haben und auch den Willen- eine Tour abbrechen zu können - auch wenn
das Ziel schon vor Augen ist. Falscher Ehrgeiz und Selbstüberschätzung können
verherende Folgen haben. Solche oder ähnliche Ereignisse gehören zum Erfahrungsprogramm des Lebens
Diese Erlebnisse bleiben haften - bei den Menschen - bei den
Mitarbeitern, den Jugendlichen und bei mir selbst.
Gerade die Verhaltensweisen eines Kindes oder Jugendlichen, ja auch die
eines Erwachsenen bei Kletter- oder Bergtouren können grundverschieden
sein. - Ich habe sie alle erlebt -
- aggressiv, emotionsgeladen, traurig, glücklich, brutal, mutlos
erfolgshungrig, kameradschaftlich und, und.....
Gerade das alles ist ein Reife - und Lernprozess und hat mir ganz klar
gezeigt, dass ich mit Kindern und Jugendlichen- beim Klettern- und
Bergsteigen -pädagogisch viel erreicht habe und noch mehr erreichen will.
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